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Stolperstein Lewin

Vorschaubild Stolperstein Lewin

Uhrmachermeister Georg Lewin,
der einzige jüdische Einwohner der Stadt Putlitz
Erinnerungen von Frau Doris Kretschmer an ihren Großvater während der Judenverfolgung in der NS- Zeit.


Mein jüdischer Großvater Georg Lewin heiratete im Jahre 1910 meine Großmutter Ella Müller aus Putlitz. Hier war er damals der einzige Jude und betrieb in der Königsstraße ein kleines Uhrmachergeschäft. Da meine Großmutter der evangelischen Kirche angehörte, wurden die beiden Paula (geb. 1911) und Theodor (geb. 1920) nach der Mutter ebenfalls im evangelischen Glauben erzogen.

Durch die Machtergreifung Hitlers wurden die Lebensumstände für meine Familie immer bedrohlicher. Freunde und Bekannte zogen sich mehr und mehr zurück. Die Kunden blieben aus. Nachts wurde das Haus beschmiert, so dass ein Familienmitglied immer schon vor dem Morgengrauen die Schmiererei beseitigen musste. Im Schaukasten für die Nazipresse („Völkischer Beobachter“, „Der Stürmer“) am Haus gegenüber erschienen Hetzparolen gegen Juden, speziell gegen meinen Großvater. Aber auch bösartige Verleumdungen und offene Angriffe auf der Straße wie Beschimpfungen und Anspucken gehörten nun zum Alltag meines Großvaters und seiner Familie, die als nichtjüdische Ehefrau bzw. als halbjüdische Kinder ebenso unter diesem Wahnsinn zu leiden hatten.

Immer wieder musste sich mein Großvater bei der Polizei melden und wurde mehrmals inhaftiert. Dramatisch und lebensbedrohlich wurde die Situation in der Pogromnacht im November 1938. In Putlitz fand diese allerdings erst einen Tag später, also am 10.11.1938, statt, vermutlich wegen verzögerter Nachrichtenübermittlung und Organisationsproblemen. In Putlitz selbst hatte der Ortsgruppenführer Quente keinen Schlägertrupp zusammenstellen können. Also wurde in den umliegenden Dörfern gewaltbereite SA-Männer gesucht und auch gefunden.

An diesem schrecklichen Abend blieb nichts in dem kleinen Laden und der angrenzenden Wohnung verschont. Die Schaufensterscheibe, die zur Reparatur abgegeben Uhren, sämtliche Einrichtungsgegenstände wurden mit Äxten, Beilen und Messern verwüstet. Das EK I meines Großvaters aus dem 1. Weltkrieg wurde auf den Küchentisch genagelt. Federbetten wurden aufgeschlitzt und Eingewecktes darüber geschüttet. Das Lied „...und wenn das Judenblut vom Messer spritzt, dann gehts nochmal so gut“ begleitete das entsetzliche Geschehen. Meinem Großvater versuchte man den Schädel einzuschlagen. Als er blutüberströmt zusammenbrach, schleppte man ihn auf einen eigens dazu mitgebrachten Handwagen mit dem Vorsatz, ihn in der nahe gelegenen Stepenitz zu ertränken. Wie durch ein Wunder ging ging bei dieser Aktion die Deichsel entzwei und die SA- Leute kippten ihn kopfüber in ein Gebüsch. Durch die Umsicht und den Mut der Familie Rump, die dort wohnte, konnte mein Großvater gerettet und ärztlich versorgt werden. Meine Mutter hat erst viele Jahre später die fürchterlichen Geschehnisse aufschreiben können.

Sie wollte diese anlässlich des 50. Jahrestages der Pogromnacht im „Neuen Deutschland“ (DDR-Zeitung) veröffentlichen. Die Zeitung reagierte allerdings nur mit ein paar Dankesworten, fand aber keine Möglichkeit zur Veröffentlichung.

Durch die Zerstörung des gesamten Inventars des Geschäfts und der angrenzenden Wohnung wurde meiner Familie nun jegliche Existenzgrundlage genommen. Mein Großvater musste die Familie verlassen, um diese nicht weiter zu gefährden. Er fand Zuflucht bei seinen Schwestern in Berlin. Da das Geschäft meines Großvaters die Familie schon lange nicht mehr ernähren konnte, hatten meine Großmutter und meine Mutter eine Schneiderstube eröffnet. Aber auch hier war nach der Pogromnacht alles verdorben.

Nur sehr wenige Putlitzer wagten es, meiner Familie zu helfen. Einer der ersten war der Baron Siegfried zu Putlitz-Philippshof. Er schickte bereits am nächsten Tag unaufgefordert und kostenlos ein Pferdefuhrwerk mit Brennholz.

Meine Mutter musste sich danach zum Arbeitsdienst in der Textilfabrik Quandt in Pritzwalk zur Verfügung stellen. Jedoch wurde ihr aufgrund der Nürnberger Gesetze nach einiger Zeit die Arbeitserlaubnis entzogen.

Wiederum zeigte sich Herr Siegfried zu Putlitz entgegenkommend und widersetzte sich dem geltenden Gesetz, was für ihn nicht ungefährlich war. Er bot meiner Mutter eine Arbeitsstelle an und beschäftigte sie etwa ab 1940 in seinem Haushalt und in der Nähstube. Auch stellte er ihr ein Zimmer in seinem Hause zur Verfügung. So hatte sie bis zum Kriegsende die Möglichkeit, Geld zu verdienen und damit ihre Mutter und ihren Vater in Berlin zu unterstützen.

Im Schloss von Putlitz-Philippshof fand sie aber nicht nur eine materielle Existenzgrundlage, sondern in der Familie des Herrn Baron auch Menschen, die sie in dieser Zeit achteten und die ihr Mut zusprachen. So sagte der Baron des öfteren: „Paula, es dauert nicht mehr lange.“

Ein besonders enges Verhältnis entwickelte sich in diesen Jahren zwischen den Kindern der Familie und meiner Mutter. So ist es sicherlich auch zu erklären, dass nach dem Wunsch des Herrn Baron meine Mutter und meine Großmutter gemeinsam mit seiner eigenen Familie die Flucht antreten sollten, um sich in Sicherheit zu bringen. Meine Großmutter und Mutter entschieden sich jedoch dafür, in Putlitz zu bleiben und dieses Angebot nicht anzunehmen.

Die freundschaftliche Beziehung zur Familie Putlitz-Philippshof blieb jedoch bestehen, wurde durch ständigen Briefkontakt und gegenseitige Besuche auch während der DDR-Zeit erhalten und endete erst mit dem Tode meiner Mutter im Jahre 1991.

 

Betrifft Baron/Baronin Siegfried zu Putlitz (Putlitz-Philippshof)

 

Frau Renate von Laffert geb. zu Putlitz-Philippshof hat mich gebeten, das Leben meiner Großeltern Georg und Ella Lewin und deren Tochter Paula Lewin (meine Mutter) während der Zeit der Nazidiktatur kurz zu schildern.

Ich möchte diesem Wunsch nachkommen, da mir die Umstände der damaligen Zeit und das besondere Schicksal meiner Familie durch die Erzählungen meiner Mutter gegenwärtig sind und weil Frau von Laffert und meine Mutter viele Jahre durch eine freundschaftliche Beziehung verbunden waren.

Ich hoffe, damit auch dazu beizutragen, das Persönlichkeitsbild des Herrn Baron Siegfried zu Putlitz-Philippshof und seiner Gattin zu vervollständigen.

 

 

Doris Kretschmer

Wittstock, den 22.07.2004